Beitrag zur Demokratieerziehung im Klassenzimmer
„Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel richtig setzen.“ (Aristoteles)
Dieses Zitat stand an der Tafel, als meine Schülerinnen und Schüler der damals 7. Klasse im Schuljahr 2016/2017 das Klassenzimmer betraten. Auf meine Frage, welche Bedeutung dieses Zitat für uns als Klassengemeinschaft haben könnte, erhielt ich zum damaligen Zeitpunkt natürlich unterschiedlichste Antworten. Zusammengefasst waren wir uns aber bald einig:
- Wir sitzen im selben Boot,
- der Hafen, den wir ansteuern, ist der Schulabschluss und
- der Wind, der uns in dieser Zeit entgegen blasen wird, bringt Meinungsverschiedenheiten, Wissenslücken, die gefüllt werden wollen, Inhalte, die nicht leicht zu verstehen sind, Prüfungsangst, zwischenmenschliche und private Probleme, die unsere Konzentration leiden lassen, mit sich.
Nach drei Jahren haben nun die meisten den Hafen erreicht, blicken zurück auf eine raue See, ich schreibe das Zitat erneut an die Tafel und wir fragen uns: „Was und wie haben wir das geschafft?“
Wir sind zu einer Gemeinschaft geworden!
Mein Lehrauftrag als Mittelschullehrerin ist unter anderem, die Schülerinnen und Schüler im Geist der Demokratie zu erziehen. So sieht es das Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen vor. Demokratie ist ein so weitreichender Begriff, der für Jugendliche im Alter von 14 Jahren kaum fassbar ist. Trotzdem versuche ich alles, diesen Begriff für sie mit Inhalt zu füllen und damit meiner Verantwortung gerecht zu werden. Es war mir von Beginn an wichtig, dass meine Schülerinnen und Schüler den Geist der Demokratie im wahrsten Sinne des Wortes e r l e b e n können und nicht nur, für sie sinnleere, Definitionen in ihre Hefte schreiben.
Die Basis unserer kleinen Klassenzimmerdemokratie (didaktische Reduktion) bildete das Bewusstsein, dass wir ein Team, eine Gemeinschaft sind, zu der ich als Lehrerin ebenfalls gehöre. Wir sind uns im Klaren darüber gewesen, dass wir nur auf diese Art und Weise gemeinsame Ziele erreichen können.
Wir sind ein Team und rudern miteinander, nicht gegeneinander!
Demokratie im Kleinen erlebbar machen
Wie haben wir dieses Bewusstsein geschaffen?
Wir wollten Demokratie im Kleinen erlebbar machen. Von mir unausgesprochen, folgte unser Vorgehen einem demokratischen Leitfaden, der auf unverständliche Fachbegriffe verzichtete. Denn Demokratie erleben bedeutet nicht zwingend, sie in all ihren Einzelheiten benennen zu können.
Es beginnt mit einfachsten Umgangsformen. Wir begrüßen und verabschieden uns per Handschlag und schaffen so eine Begegnung auf Augenhöhe (Gleichheit). In dieser Atmosphäre gelingt es dann leichter, Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Wir bilden einen Klassenrat, in dem ich als Lehrerin Mitglied bin. Geleitet wird er von den demokratisch gewählten Klassensprechern (Gewaltenteilung).
Die Regeln und den Ablauf des Klassenrates und auch die allgemeinen Klassenregeln haben wir vorher gemeinsam erarbeitet und abgestimmt (Mehrheits- und Konsensprinzip). Jeder lernt seine Meinung dazu zu äußern, sie zu begründen, andere zu überzeugen oder sich selbst umstimmen zu lassen (freie Meinungsäußerung). Für Verstöße gegen die Klassenregeln gibt es Konsequenzen, über die ebenso abgestimmt und diskutiert wurde. Allein durch diese Rahmenbedingungen wird den Schülern und Schülerinnen bewusst, dass sie Mitspracherecht haben und dass sie alle gleichbehandelt werden, denn sie haben gemeinsam die Regeln und Konsequenzen festgelegt. Es ist ihre selbst erschaffene Verfassung (Verfassungsmäßigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz).
Die Routen analysieren und eine Richtung einschlagen
Erziehung zur Wachsamkeit
Was in Wissenschaft und Politik kontrovers erscheint, muss auch im Unterricht kontrovers diskutiert werden. Als Lehrerin unterstehe ich dem Überwältigungsverbot, und soll die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, in politischen Situationen ihre eigenen Interessen zu analysieren, so der Beutelsbacher Konsens. Auch hier bedarf es erneut einer didaktischen Reduktion.
Kontroversität entsteht durch Meinungsvielfalt. Befassen sich also die Schülerinnen und Schüler auf Grundlage der bereits gelebten demokratischen Grundsätze beispielsweise mit unterschiedlichen Parteiprogrammen und kommt es dadurch zur Diskussion, entsteht eine Pluralität an Sichtweisen. Das führt wiederum dazu, dass sie beginnen, ihre eigenen Interessen zu analysieren, zu ordnen und vielleicht sogar neu zu justieren. Die Schüler und Schülerinnen trauen sich, auf Basis der gelebten Werte, der Fakten und Meinungen erste individuelle, politische Entscheidungen zu treffen: Sie fordern eine Schweigeminute für die Opfer des Attentats in Christchurch oder bleiben der Schule fern, um bei den „Fridays for future“- Demonstrationen für ihre eigene Meinung einzustehen. Dabei stelle ich das Handwerkszeug zur Prüfung demokratischer Werte zur Verfügung, ohne zu indoktrinieren. Die Wachsamkeit, für weitere Situationen in denen es einer Entscheidung oder Reaktion bedarf, die daraus resultiert, geht über die Grenzen des Klassenzimmers hinaus und führt dann zum nächsten Schritt.
Wir helfen anderen mit aufs Boot und halten bei Gegenwind trotzdem Kurs
Erziehung zur Eigenverantwortung und Frustrationstoleranz
Entscheidungen gemeinsam zu treffen, Kompromisse einzugehen, Meinungen zu akzeptieren, Konsequenzen zu tragen, Eigeninitiative zu ergreifen, miteinander, statt gegeneinander zu arbeiten, Demokratie zu leben, das fühlt sich gut an. Weniger gut fühlt es sich an, wenn man damit an Grenzen stößt.
Zuzusehen, wie Mitschüler im Pausenhof Müll auf den Boden werfen, kann nach der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Klimawandel, zu so einer Grenze werden. Durch das Verinnerlichen der gelebten demokratischen Werte, der eigens gebildeten Meinung, dem vorangegangenen Besuch der Demonstration und der daraus entwickelten Wachsamkeit, können die Schüler und Schülerinnen nun reagieren. Sie werden zum Vorbild, indem sie ihren Müll in den entsprechenden Eimer werfen und sie machen andere auf deren Fehlverhalten aufmerksam.
Rahmenbedingungen und entstehende Hindernisse sind in der Schule genauso Realität, wie in der gesellschaftlichen Entwicklung. Daher ist es in der Klasse unsere Pflicht und unser Recht, Missstände zu benennen und Alternativen aufzuzeigen, um diese dann einfordern zu können. Demokratie bedeutet eben auch, dass man nicht immer bekommt, was man will. Aber den Schülern und Schülerinnen wird bewusst, dass sie Mittel haben, um es beeinflussen zu können.
Wenn die Crew das Boot verlässt
Demokratie erfolgreich lehren, heißt auch zu akzeptieren, dass die Schülerinnen und Schüler nach dem Abschluss andere Wege gehen
Ich kann meine Schüler und Schülerinnen nur lehren, die Segel richtig zu setzen, indem ich ihnen zeige, wie man Seekarten liest, einen Kompass verwendet und den Wind richtig einzuschätzen lernt. Wenn sie nach ihrem Abschluss das Boot verlassen, bleibe ich als Kapitän zurück und muss unter Umständen schmerzlich ertragen, dass sie einen anderen Weg einschlagen. Aber auch das bedeutet Demokratie.
Wir sollten ihnen nahebringen, was es heißt, Demokraten zu sein. Ihnen vorzugeben, wie sie als Demokraten zu leben haben, wäre übergriffig, übersteigt unseren Einflussbereich und widerspricht außerdem den oben genannten demokratischen Grundsätzen, die sie in ihrer Klasse erlebt und gelebt haben.
Ändern können und dürfen wir die Schüler und Schülerinnen nur bedingt, aber in jedem Fall können wir darauf vertrauen, dass sie nach ihrer Schulzeit die Segel in einem anderen Boot ebenso richtig setzen, vielleicht sogar als Kapitänin oder Kapitän.
von Sarah Nürnberger