BAYERISCHES BÜNDNIS FÜR SPRACHBILDUNG


„Schulen kommt bei der gesellschaftlichen Integration dieser Kinder und Jugendlichen eine Schlüsselrolle zu, denn sie vermitteln zentrale Kompetenzen und Qualifikationen, die eine aktive Lebensgestaltung und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen und berufliche Perspektiven eröffnen.“ 

(Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2012)

Nachdem der Ruf der Schulen nach Unterstützung im Sprachunterricht immer lauter wird, bilden der Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverband MLLV und das Bildungsnetzwerk München BiNet (Bildungsstiftungen und weitere „Bildungspartner“) die Arbeitsgruppe „Deutschklassen“. 

Seit der Weiterentwicklung der bewährten (zweijährigen) Übergangsklassen zu (einjährigen) Deutschklassen, (gegen den massiven Einspruch des MLLV) verschlechtern sich die Sprachkenntnisse der Kinder mit Flucht und/oder Migrationshintergrund immer mehr. Kinder sitzen ohne ausreichende Deutschkenntnisse in Regelklassen und die geplante Förderung kann wegen des Lehrermangels nicht geleistet werden. 

Unter dem Schlagwort „Brennpunkt Deutsch Plus Klassen“ stellte die Arbeitsgruppe aktuelle Herausforderungen zusammen und zeigt Lösungswege auf. Sie hat sich folgende Schritte zum Ziel gesetzt:

Vorkurs Deutsch muss bei der vom Kultusministerium empfohlenen Gruppengröße von 6 – 8 Kindern begrenzt werden und darf nicht wie z. B. in München auf 20 Kinder aufgefüllt werden.  Kinder aus Deutschklassen sollen erst in die Regelklassen eingereiht werden, wenn ihre Deutschkenntnisse so gut sind, dass sie den Anschluss gut finden können und ihr Allgemeinbefinden einen Schulwechsel zulässt. Jedem Kind soll Teilhabe ermöglicht werden. Um dies zu erreichen, brauchen wir ein breites Bündnis für Bildung.  Bereits bestehende, positiv wirkende Lösungswege sollen verstärkt und ausgerollt und in einem zweiten Schritt auf der Stadtquartierebene implementiert werden.

In Turboschritten per Videokonferenzen zur kooperativen Unterstützung

Nachdem man während der Coronakrise den Deutschklassenkindern immer weniger gerecht werden kann und der bereits seit Jahren bestehende Lehrermangel immer größer wird, beschließt die Münchner Arbeitsgruppe ein Bayerisches Bündnis für Sprachbildung zu bilden und holt zuerst den BLLV ins Boot. Gemeinsam gewinnen wir unterschiedliche Kooperationspartner, die das MLLV/BLLV/BiNet-Positionspapier mittragen können. Gewünschte Änderungen werden noch aufgenommen. Der nächste Schritt, die Politik in einer Präsenzveranstaltung mitzunehmen, konnte wegen der Hygienevorschriften noch nicht umgesetzt werden. Um die befürchtete Stundenreduzierung im neuen Schuljahr zu verhindern, entschlossen sich MLLV/BLLV/BiNet im Kultusministerium vorzusprechen und die geplanten Aktionen mit dem Positionspapier vorzustellen.

Waltraud Lučić wurde als Vertreterin beim Amtschef vorstellig.

Dank und Anerkennung aus dem Kultusministerium

Ministerialdirektor und Amtschef des Kultusministeriums, Herbert Püls, sieht die Notwendigkeit, Kinder ausreichend Unterstützung zum Erlernen der Sprache zu geben. Er bedankt sich für den Einsatz der Schulen, Kirchen und der Zivilgesellschaft. Um den Lehrermangel aufzufangen, werden die Mittel für Drittkräfte von 10 auf 13 Mio. € erhöht. Die Deutschklassen bleiben erhalten.

Bei einer Präsenzveranstaltung wollen MLLV/BLLV/BiNet das Positionspapier der Politik und dann der Presse mit den notwendigen Schritten vorstellen können:

 

  • optimale Sprachförderung für alle Kinder und Jugendlichen in Vorkursen, Deutsch-Plus-Kursen und Deutschklassen durch ausreichende Lehrerstunden und geeignete digitale Medien
  • Verkleinerung der Klassen bei höherem Förderbedarf 
  • Ausbau der Stellen für Förderlehrkräfte
  • kurz- und mittelfristig eine zentral von Ministerium und Bezirksregierungen organisierte Akquise, Qualifizierung und Personalführung geeigneter und angemessen bezahlter Drittkräfte zur Überbrückung von Lehrerstundenengpässen bei der Sprachförderung und Unterricht in Kleingruppen  
  • langfristig eine nachhaltige, bedarfsgerechte Personalplanung in den Lehrämtern Grund-, Mittel- und Förderschule mit genügend Reserven für starke Kindergarten- und Schülerjahrgänge 
  • attraktive berufliche Rahmenbedingungen für Erzieherinnen und Erzieher sowie Grund-, Mittel- und Förderschullehrkräfte, die für genügend Berufsanfänger sorgen
  • das vollständige Positionspapier können Sie auf der website nachlesen. https://mllv.bllv.de/fileadmin/BLLV-Regional/Bezirksverbaende/mllv/Chronik/2020/05-2020_September_Oktober/Position_Brennpunkt_Deutsch_Plus_FIN_2020-07-22.pdf

Waltraud Lučić



Ministerialdirektor Herbert Püls und MLLV-Vorsitzende Waltraud Lučić stellen fest, dass Corona die Herausforderungen verstärkt.


Kommentar

Schaffen wir das – so – wirklich gut?

Einblicke in die Münchner Schulstatistik

Als Bundeskanzlerin Merkel 2015 angesichts hunderttausender Geflüchteter vor unserer Haustür den Mut aufbrachte zu ihrem „Wir schaffen das!“, dachte ich überrascht: „Respekt. Jetzt bekommen die viel beschworenen europäischen Werte eine ganz neue Dimension.“ Und: „Natürlich können wir nicht alle Notleidenden der Welt aufnehmen. Hoffentlich setzen wir uns jetzt endlich ernsthaft mit der Frage auseinander, welche Fluchtursachen von unserer Wirtschaftspolitik und unserem eigenen Konsumverhalten mitbedingt werden.“

Zugleich war mir wie meinen Kolleg*innen klar, welche enorme zusätzliche Integrationsaufgabe unsere Kitas und Schulen aus dem Stand bewältigen müssen. Bildungseinrichtungen, die zumal im Kontext Großstadt ja auch damals schon schwer gefordert waren mit den Riesenbaustellen Integration und Inklusion. Da erwartete ich mir vom Rückenwind der Kanzlerin schon ein sattes Plus an zusätzlichen Ressourcen statt verschärftes Fahren auf Verschleiß. Fünf Jahre sind seitdem vergangen, Zeit für eine Zwischenbilanz aus der Perspektive der Münchner Grund- und Mittelschulen.

Die Herausforderung in konkreten Zahlen

Zunächst einmal ein Blick auf das Migrationsgeschehen zwischen 2015 und 2017: Im Schuljahr 2017/18 besuchten 2324 Kinder Münchner Grundschulen, die in dieser Zeit zugewandert waren. Dies waren 5,5 % aller Grundschüler*innen. An den Mittelschulen stellte diese Personengruppe damals sogar 16,4 % aller Schüler. Alleine an dieser Zahl wird klar, welch riesige Integrationsleistung vor allem an den Münchner Mittelschulen zu erbringen war (zum Vergleich: Realschulen 2,3 %, Gymnasien 0,9 %).

Insgesamt ist der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund seit dem Schuljahr 2013/14 an den Münchner Grundschulen von 44,3 % auf 53,9 % gestiegen, an den Mittelschulen von 65,7 % auf 81,5 %. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass der Anteil der Schüler mit nichtdeutscher Familiensprache allein zwischen 2013 und 2017 in der Grundschule von 40,9 % auf 47,6 % und in der Mittelschule von 47 % auf 70 % gestiegen ist.

Task vs. force

An diesen Zahlen wird deutlich, dass der individuelle Förderbedarf im Bereich Deutsch sowohl quantitativ als auch qualitativ enorm zugenommen hat. Dennoch wurde die Anzahl der Vorkurse Deutsch von 488 in 2013 auf 330 zusammengestrichen. Dem entsprechend stieg die Zahl der Kinder pro Vorkurs von durchschnittlich 8,7 auf 14,9. Zur Erinnerung: Ursprünglich sah das Kultusministerium eine Gruppengröße von sechs Kindern für den Vorkurs Deutsch vor.

Die Möglichkeit, bei Bedarf weitere Vorkurse aus dem allgemeinen DeutschPLUS-Budget der Schule einzurichten, bleibt somit meist Theorie. Kein Wunder, denn dieses Budget wird eben schon für die Grundschüler*innen dringend gebraucht.

Dazu kommt noch, dass die Münchner Kindergärten wegen des chronischen Personalmangels schon seit Jahren ihren Anteil am Vorkurs Deutsch (120 von 240 Stunden Förderung) nicht erbringen. Als Feigenblatt muss die allgemeine Sprachförderung als Alltagsprinzip herhalten. Ein Prinzip, das vollends ad absurdum geführt wird, wenn Teile des Personals aufgrund des eigenen Migrationshintergrunds selbst kein astreines Deutsch sprechen!

Somit verschlechtern sich die Rahmenbedingungen in der für alle Kinder so wichtigen Schuleingangsphase erheblich. Es darf doch nicht sein, dass selbst Kinder ohne jegliche Deutschkenntnisse und ohne Kindergartenbesuch im Herkunftsland verzweifelt weinend in Regelklassen sitzen! Es ist aber leider so. Sie bräuchten wenigstens ein Jahr im Kindergarten, um spielerisch erste Sprachkenntnisse und Vorschulfertigkeiten aufbauen zu können. Oder eine Deutschklasse für Schulanfänger. Warum gibt es die eigentlich nicht?

2013 gab es 79 Übergangsklassen mit durchschnittlich 14 (MS) bzw. 15,7 Schüler*innen (GS), in der Spitze 2016/17 fast 110. Heute sind es noch 68 Deutschklassen. Durchschnittlich wurden die Münchner Deutschklassen auch im vergangenen Jahr von 14,7 Schüler*innen besucht, das Schulamt genehmigt keine Überschreitung des Maximums von 20. Nur: Mit der Einführung der Deutschklassen wurde die Lernzeit von ursprünglich maximal zwei Schuljahren auf „in der Regel“ ein Schuljahr im Ganztag zusammengestrichen. Weil es am Geld fehlt, kann aber nur ein knappes Drittel als gebundene Ganztagsklassen geführt werden.

Zudem werden Deutschklassen am Schuljahresende vielerorts leer geräumt und selbst Schüler*innen, die beispielsweise erst im Frühjahr aufgenommen wurden, pauschal zu Regelschülern erklärt. Das aktuelle KMS gesteht Schüler*innen in Deutschklassen glasklar ein Lernjahr oder auch mehr zu. Wissen das manche Schulleitungen nicht? Ist ihnen auch nicht präsent, dass aufgrund der besonderen Situation der Corona-Pandemie Wiederholungen vom Schulamt generell großzügig unterstützt wurden? Oder haben sie am Ende doch keine andere Wahl?

Diese Schüler*innen bekommen zwar weiterhin gesonderten Unterricht in DaZ, können aber dem übrigen Fachunterricht in der Regelklasse sprachlich keineswegs folgen. Logische Konsequenz: zusätzliche Belastungen im Schulalltag für alle Betroffenen. Besuchen diese Schüler*innen bereits höhere Jahrgangsstufen, haben sie jetzt noch viel schlechtere berufliche Perspektiven als zuvor. Diese Entwicklung ist alarmierend. Auch wenn mit 4 % nur ein recht kleiner Teil der Grund- und Mittelschüler mit Migrationshintergrund Deutschklassen besucht, sind es doch aktuell jährlich bis zu 1360 Schüler*innen mit besonders schlechten Zukunftschancen. Wenn Eltern die Aufnahme ihres Kindes in eine Deutschklasse ablehnen, sollte das Schulamt im Sinne aller Betroffenen handeln und eine verbindliche Zuweisung vornehmen können.

Trotz der Kürzungen bei Vorkursen und Deutschklassen wurde das Gesamtbudget für Deutschfördermaßnahmenseit 2013 immerhin um etwa 5 % aufgestockt. Allerdings lernen heute fast 7000 Schüler*innen mit Migrationshintergrund mehr in unseren Regelklassen als noch 2013. Das entspricht schon rein rechnerisch einer Steigerung um 28 %. Die Zahlen sprechen für sich.

Auch 2013 waren wir weit von einer Bedarfsdeckung entfernt. Logisch, dass an vielen Münchner Grund- und Mittelschulen heute bei Weitem nicht alle Kinder mit erheblichem Deutschförderbedarf in entsprechende Fördermaßnahmen aufgenommen werden können, weil diese bereits mit Schüler*innen mit noch höherem Bedarf belegt sind.

Im Alltag fallen zudem an vielen Schulen die DeutschPLUS-Stunden besonders oft kurzfristig und in manchen Fällen sogar dauerhaft aus, wenn Bedarf an anderer Stelle besteht, der sonst nicht gedeckt ist. Dabei handelt es sich bei diesen Stunden nicht um ein „nice to have“, sondern um ein Menschenrecht und eine dringend notwendige Investition in gesellschaftlichen Frieden! Deshalb weist das Schulamt immer wieder darauf hin, dass DeutschPLUS-Stunden grundsätzlich nicht für Vertretungen herangezogen werden sollen. Aber was tun, wenn „die Hütte brennt“?

All inclusive?

Last but not least haben wir vor allem an den Grund- und Mittelschulen ja auch noch auf der Dauerbaustelle Inklusion jede Menge zu tun. Laut Münchner Bildungsbericht gilt beispielsweise ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf bereits als „gefördert“, wenn der MSD einmal vor Ort war. Immerhin ist klar, dass die verfügbaren sonderpädagogischen Ressourcen über die Jahre leicht aufgestockt wurden (Stand: 2016/17). Zugleich ist aber auch die Zahl der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf massiv gestiegen. Somit reichen die Ressourcen auch auf diesem Gebiet noch viel weniger aus als früher. Dabei erhalten Mittelschüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf laut Bildungsbericht sogar noch wesentlich weniger sonderpädagogische Unterstützung als Grundschulkinder.

Zudem berichten Fachleute nicht erst „seit Corona“ von einer stark wachsenden Zahl von Schüler*innen mit psychischen Auffälligkeiten und psychiatrischen Störungen. Welche Ursachen dafür verantwortlich sind, ist möglicherweise eine Frage mit immensem gesellschaftspolitischem Sprengstoff. Wie auch immer: Schon 2016 wurden 29 % der Schüler mit diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich emotionale und soziale Entwicklung an Regelschulen unterrichtet. Übrigens sind Schüler*innen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in dieser Gruppe leicht unterrepräsentiert, obwohl etliche von ihnen fluchtbedingt an Traumata leiden.

Mein Fazit

An vielen Münchner Schulen wurden in den letzten Jahren hohe Kompetenzen bei der Sprachförderung aufgebaut und innovative Wege zur Integration entwickelt. Dies war nur durch höchsten Einsatz der Schulleitungen und Kollegien möglich. Das Schulamt steht mit Rat und Tat im Rahmen des Möglichen zur Seite. Allerdings werden intensive Förderangebote wie Vorkurse oder Deutschklassen durch Überbelegung oder massive Kürzungen eines Großteils ihrer Effizienz beraubt. Dem entsprechend drängen immer mehr Schüler*innen mit hohen Förderbedarfen in die Regelklassen an Münchner Grund- und Mittelschulen. Dort reichen die zusätzlichen Ressourcen bei Weitem nicht aus. Zugleich steigen die Klassenstärken nahezu flächendeckend deutlich an. Sogar die durch den MLLV vor Jahren bewirkte Schülerhöchstzahl von 25 in Klassen mit mehr als 50 % Schüler*innen mit Migrationshintergrund ist mittlerweile in Gefahr, weil sich der Lehrermangel immer weiter zuspitzt.

Unterricht findet für immer mehr Münchner Schüler*innen unter völlig unzureichenden Rahmenbedingungen statt. Die Arbeitsbelastung der meisten Grund- und Mittelschullehrkräfte steigt enorm, die Berufszufriedenheit sinkt mit der schwindenden Selbstwirksamkeit. All das ist in einem Wort: Empörend! Unser Dienstherr steht in der Pflicht, endlich massiv gegenzusteuern, damit wir „das“ wirklich schaffen können. Am Willen fehlt es uns nicht – im Gegensatz zu denen, die auf diesen Missständen ihr braunes Süppchen kochen!

Martin Göb-Fuchsberger

Quellen:

Landeshauptstadt München, Referat für Bildung und Sport (Hrsg.): Münchner Bildungsbericht 2016 Landeshauptstadt München, Referat für Bildung und Sport (Hrsg.): Münchner Bildungsbericht 2019
Staatliches Schulamt in der Landeshauptstadt München: Presseinformationen zum Schuljahresbeginn 2013/14 bis 2020/21


Position_Brennpunkt_Deutsch_Plus_FIN_2020-07-22 Position_Brennpunkt_Deutsch_Plus_FIN_2020-07-22