BLICKPUNKT

WORUM ES JETZT EIGENTLICH GEHEN MÜSSTE ...

Gedanken zum Umgang mit den Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine



Fassungslos und beinahe ohnmächtig stehen wir dem Kriegsleid gegenüber, das vielen ukrainischen Familien seit Monaten widerfährt – unverschuldet und unvorhersehbar. Ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen der Ukraine sind mittlerweile auf der Flucht, weil ihre Mütter keine andere Möglichkeit mehr sehen, ihr Leben vor der Brutalität des Krieges zu schützen.  

Als Lehrkräfte stehen wir vor einer weiteren, für uns alle unfassbaren Herausforderung und Verantwortung, wenn ukrainische Kinder zu uns kommen – in unsere Schulen, in unsere Klassen.

Für uns alle ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir für diese Kinder und Jugendlichen da sind, dass wir unseren Beitrag leisten, dass wir uns kümmern. Jeder an seiner Stelle, so unkompliziert, so individuell und unbürokratisch, wie das eben eine solche Krisensituation erfordert.

Wir alle kennen folgende Situation mittlerweile fast täglich aus unseren Schulen: Am Morgen sitzt eine ukrainische Familie mit einem schulpflichtigen Kind im Sekretariat. Zunächst gilt es trotz enormer sprachlicher Hürden herauszubekommen, in welche Jahrgangsstufe die Zuordnung erfolgen kann, welche Unterrichts- und Betreuungszeiten angesichts der individuellen Fluchtgeschichte überhaupt denkbar sind und inwieweit eine Willkommensgruppe eingerichtet werden kann.

Und genau an dieser Stelle beginnt dann das von der Schulverwaltung „hausgemachte“ Problem: Die meisten aus der Ukraine nach Bayern geflohenen Kinder und Jugendlichen besuchen die Grund- und Mittelschulen – genau jene Schularten also, die eh schon mit dem größten Lehrkräftemangel zu kämpfen haben. Nun müsste doch eine Maßnahme wenigstens darin bestehen, ukrainischen Kolleginnen und Kollegen oder anderen geeigneten Personengruppen eine unkomplizierte und unbürokratische Arbeitsmöglichkeit in den Willkommensgruppen zu eröffnen. Zunächst sah es auch ganz danach aus: In einem KMS wurden die Schulen darüber informiert, dass lediglich eine Selbsterklärung und eine Befristungsvereinbarung vorgelegt werden müssten, alle weiteren Unterlagen würden im Nachgang geprüft.  

Dann jedoch schlug der Bürokratismus zu. Wenige Tage später kam aus der Regierung von Oberbayern die Information, es bedarf nun doch einiger notwendiger Dokumente. Um das auszuhalten, muss man sich hinsetzen: Für die Vorabprüfung müssen ein Antragsformular, eine Exceltabelle, der Lebenslauf und ein Bewerbungsschreiben vorgelegt werden, daneben beglaubigte Kopien von Urkunden und Zeugnissen über Ausbildungsabschlüsse (bei ausländischen Abschlüssen mit Übersetzung), ferner beglaubigte Kopien zu den Noten und Inhalten der abgelegten Prüfungen, der Nachweis des Masernschutzes sowie bei Bewerbern mit nichtdeutscher Muttersprache der Nachweis des Goethe-Instituts über Deutschkenntnisse der Kompetenzstufe C1. Und als ob das noch immer nicht genug ist – ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis, das durch eine Selbsterklärung ersetzt werden kann. Können keine beglaubigten Urkunden und Zeugnisse vorgelegt werden, folgt ein Einstellungsgespräch, das zu protokollieren ist.

Für den nächsten Schritt der Einstellung bedarf es dann noch diverser Belehrungen und Erklärungen (zu Verfassungstreue, Scientology, Strafverfahren) sowie der Einwilligung zur Erhebung personenbezogener Daten, der Zustimmung des Örtlichen Personalrats sowie einer Befristungsvereinbarung. Zur Vertragserstellung sind schließlich weitere Unterlagen gemäß einer Checkliste notwendig. Unglaublich, aber wahr!

Lehrkräfte und Schulleitungen stehen kopfschüttelnd da und sind – wie schon so oft in den letzten Jahren und entgegen allen Beteuerungen – alleine gelassen.

Genau wie bei Corona, genau wie bei der Anstellung von Drittkräften und Brückenbauern, genau wie bei allen Fragen rund um die Digitalisierung in unseren Schulen – die überbordenden Verwaltungshürden wiederholen sich. Offensichtlich hat man aus den letzten beiden Jahren keineswegs die richtigen Schlüsse gezogen.

Stattdessen steigen die Klassenstärken, bisher geltende Klassenhöchststärken sind in den Schulen aufgehoben. Die ankommenden Schülerinnen und Schüler durften zunächst noch nicht einmal ordentlich in bestehende Klassen in ASV aufgenommen, sondern sollten dort in sogenannten ORGA-Klassen erfasst werden. Auf diese Weise schlagen die Flüchtlingszahlen bei der Lehrkräfteplanung nicht zu Buche. Es wird schlichtweg die Chance vertan, gemeinsam mit ukrainischen Kolleginnen und Kollegen die ankommenden Kinder und Jugendlichen in den Schulen zu unterrichten sowie zu betreuen und damit ein nachhaltiges Zeichen der Solidarität zu setzen.

Ach ja – und auch das kennen wir aus der Schulpraxis sicherlich alle: Die ukrainischen Kinder und Jugendlichen stehen über ihr Handy in digitalem Kontakt zu ihren Lehrkräften in der Heimat. Trotz Krieg, trotz Vertreibung, Flucht und Leid: Der Ukraine ist gelungen, was wir in zwei Jahren Corona nicht geschafft haben – der Aufbau digitaler Strukturen, um ihre Schülerinnen und Schüler online unterrichten zu können.

Vielleicht sollten die Verantwortungsträger bei uns die Chance nutzen und nachfragen, wie das geht. Vorausgesetzt natürlich, die Unterlagen möglicher Übersetzer wurden vorher ausreichend geprüft.

Es grüßt Sie herzlich

Dr. Michael Hoderlein, 3. Vorsitzender des MLLV

ZEIT FÜR DAS MITEINANDER

Aufholjagd hieß es in den Medien, Brücken bauen und Ähnliches, damit unsere Schülerinnen und Schüler möglichst schnell den verpassten oder im Homeschooling nicht gut gelernten Stoff aufholen können. Doch ist dies wirklich das was jetzt zählt? Der BLLV hat sich zu diesem Thema Prof. Dr. Schulte-Körne zum traditionellen Kamingespräch eingeladen. Es war schön und gewinnbringend, es auch einmal von anderer professioneller Seite zu hören: was unsere Kinder nun brauchen ist viel Zeit. Die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen sollten momentan im Fokus stehen. Für ganzheitliche Erfahrung und Bildung brauchen wir eben Zeit: Zeit für individuelles Lernen und individuelle Unterstützung. Den Schulalltag wieder neu einüben, sowie auch das soziale Umfeld integrieren. Wir Lehrerinnen und Lehrer wissen natürlich sehr genau wie das geht:  Strukturen neu schaffen, Schule wieder in den Alltag etablieren, Ausflüge planen, Übungen zum Klassenklima durchführen und verschiedene soziale Arbeitsformen erproben, um auch die Kommunikation untereinander wieder zu stärken, wie z. B. bei Lerntempoduetten, oder einem Speeddating mit vorgegebenen Fragen um Sprachanlässe zu schaffen und vielem mehr – wir brauchen nur Zeit. Vor allem folgendes Zitat von Prof. Dr. Schulte-Körne ist uns sehr im Kopf geblieben und zeigt wie absurd der Begriff Aufholjagd doch eigentlich ist:

„Übertragen wir doch diese Situation mal auf unser Leben. Coronabedingt hast du das letzte halbe Jahr einiges nicht geschafft und das holen wir nun in den nächsten Monaten nach. Wäre das ein adäquater Anspruch? Wie würden wir damit umgehen? Was macht uns Menschen denn aus? Wir sind doch keine Lernmaschinen. Wir brauchen für Entwicklung Zeit.“

Dieser Begriff der Aufholjagd bringt nichts als Überforderung auf Seiten der Kinder, Lehrkräfte und Eltern.

Die Psyche unserer Schülerinnen und Schüler muss uns wichtiger sein, betonte der Professor und stellte vor allem das wertfreie Beobachten in den Fokus. Von Anfang an muss das Thema psychische Gesundheit schulartübergreifend erlernt werden, nicht nur in der Förderschule wie im aktuellen System.

Langjährige Forderungen des BLLV/MLLV stimmen hier absolut mit der Einschätzung des Direktors der Kinder- und Jugendpsychiatrie Prof. Dr. Schulte-Körne überein:

 

  • Grundlegende Veränderung der Lehrerbildung
  • Multiprofessionelle Teams
  • Kleinere Klassen für mehr individuelles Lernen

Der MLLV bedankt sich für die tolle und gewinnbringende Veranstaltung des BLLV und natürlich ganz herzlich bei Prof. Dr. Schulte-Körne.

Isabel Franz, 2. Vorsitzende MLLV

POOLTESTS – IN DEN MÜHLEN VON BÜROKRATIE UND PRAXISFERNE

Von Anfang an hat der MLLV PCR-Tests in den Schulen gefordert – schon zu Zeiten, als noch über die Einführung der „Nasentests“ diskutiert wurde. Warum? Weil schnell klar war: Nur PCR-Tests zeigen die tatsächliche Pandemiesituation an den Schulen auf. Und weil die „Nasentests“ schlichtweg zu unsicher waren.

Nun haben wir die PCR-Pooltests, und mit ihnen eine hohe Sicherheit in unseren Schulen. Das ist wichtig, gerade jetzt in den Herbst- und Wintermonaten, in denen die Infektionszahlen wieder steigen. Gemeinsam müssen wir alles daran setzen, die Schulen offen zu halten. Unsere Schulkinder haben bereits einen zu hohen Preis in der langen Phase der Pandemie bezahlt. Es war also richtig, die Pooltestverfahren in den Schulen zu etablieren.

Allerdings sind wir auf dem besten Wege, durch überbordende Bürokratie und Praxisferne die Akzeptanz der Pooltests zu zerstören. Folgende Beispiele belegen das:

 

  • Die Handlungsanweisungen des Gesundheitsreferats der Landeshauptstadt München, was bei Auftreten positiver Testergebnisse zu tun ist, umfassen mittlerweile neun (!) Seiten und werden im Wochentakt erweitert. Den Durchblick zu behalten, was genau zu tun ist, fällt nicht nur zunehmend schwer, sondern erschließt sich mitunter gar nicht mehr.
  • Schulleitungsteams füllen Kohortenlisten aus, ermitteln Kontaktpersonen, benennen Sitznachbarn, melden alle Daten – teils inhaltsgleich, jedoch in verschiedenen Listen – an mehrere Portale und Adressen.
  • Besuchen betroffene Kinder auch noch Ganztagsbetreuungsgruppen in Horten, Tagesheimen oder im Kooperativen Ganztag – innerhalb oder außerhalb der eigenen Schule –, wird die Meldesituation völlig unüberschaubar.
  • Die Hotline des Gesundheitsreferats – speziell eingerichtet für die Schulen – ist hoffnungslos überlastet. Vielfach erreichen Schulleitungen überhaupt niemanden mehr, Fragen bleiben offen und ungeklärt.
  • Immer wieder bekommen Eltern aus dem Gesundheitsamt falsche Informationen, da das eilig eigestellte Personal offensichtlich nicht ausreichend geschult werden konnte.
  • Bis 19.00 Uhr erhalten Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen aus dem Labor die Ergebnisse der Klassenpools. Die Erfahrung aus den ersten Testwochen zeigt, dass viele Eltern den Text aus dem Labor schlichtweg nicht verstehen und fälschlicherweise davon ausgehen, dass ihr Kind nun positiv getestet wurde. Was folgt, sind von Verunsicherung und Nervosität geprägte Telefonate und Mails zwischen Eltern und Lehrkräften bzw. der Schule. Wenn in der Früh um 06.00 Uhr dann die Einzelergebnisse kommen, beginnt für Lehrkräfte und Schulleitungen ein wirklich schwer vorstellbarer Telefonmarathon. Denn die Benachrichtigung der Eltern per SMS oder Mail durch das Labor klappt vielfach nicht. Eltern lesen die Nachrichten nicht oder sind nicht erreichbar. Immer wieder kommen Kinder, die in Quarantäne müssen, trotzdem in die Schule.

Was ist zu tun?

Offenheit und Transparenz im Handeln müssen ganz oben bei der gemeinsamen Bewältigung der Situation stehen. Niemand aus der Schullandschaft macht dem Gesundheitsreferat einen Vorwurf, wenn aufgrund der nachvollziehbaren Überlastung Unklarheiten entstehen, wenn Eltern von Quarantänekindern keine oder eine viel zu späte Rückmeldung aus dem Gesundheitsamt bekommen. Wenn die Verantwortung dann aber den Kollegien in den Schulen zugewiesen wird, weil diese angeblich ihren Aufgaben nicht in ausreichendem Maße nachkommen, dann mag das bestenfalls noch mit politischem Taktieren erklärbar sein. Völlig unpassend ist an dieser Stelle die Androhung eines Bußgeldverfahrens gegenüber Schulleitungen.

Denn das wissen alle, die in der Praxis mit den Pooltests zu tun haben: Die Hauptlast tragen – wie schon über die gesamte Zeitdauer der Pandemie hinweg – die Kollegien und die Schulleitungsteams vor Ort an den einzelnen Schulen.

Und daher muss selbstverständlich nach den originären Aufgaben der einzelnen Akteure gefragt werden: Die Schulen sind Bildungs- und keine Gesundheitseinrichtungen. Es kann nicht zielführend sein, wenn die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen Arbeiten verrichten, die originär in den Bereich der Gesundheitsbehörden gehören. Das Erledigen der täglichen Meldungen sowie das Anfertigen von Listen über Listen legen Lehrkräfte und Schulleitungen allmählich lahm. An deren originäre Aufgabe ist bestenfalls nur noch nachrangig zu denken – Unterrichtsentwicklung, Schulentwicklung, Personalentwicklung bleiben hoffnungslos auf der Strecke.

Viele Kolleginnen und Kollegen stellen an ihren Dienstherrn auch die Frage, warum sie selbst nicht an den Pooltests teilnehmen dürfen. Warum sie seitens des Kultusministeriums davon ausgeschlossen werden, obwohl das eigene Mittesten organisatorisch völlig unproblematisch wäre. Nach wie vor tragen sie von allen im Bildungsbereich Tätigen das höchste Risiko sich mit Corona zu infizieren – im Übrigen unabhängig von ihrem Impfstatus.

Zum Aspekt der Fürsorgepflicht gehört daneben auch die Frage, wo denn endlich die Lüftungsgeräte für die Klassenzimmer bleiben. Dass die Pandemie nach den Sommerferien nicht vorbei sein würde, war klar. Warum also blieben die Monate im Frühling und im Sommer so ungenutzt?

Wir können die Coronakrise in den Schulen nur gemeinsam bewältigen, jeder an seinem Wirkungsort – und wir sind das den uns anvertrauten Kindern schuldig. Denn – wie gesagt: Die Schülerinnen und Schüler haben bereits einen viel zu hohen Preis bezahlt!

Es grüßt Sie sehr herzlich

Dr. Michael Hoderlein
3. Vorsitzender des MLLV


Weitere Blickpunkte

RATLOSIGKEIT AUFGRUND DER SELBSTTESTS AN SCHULEN? DER MLLV HANDELT!

Remonstration – was ist das eigentlich? Auch dem Staatlichen Schulamt in München war dieses Vorgehen weitgehend unbekannt. Trotzdem schlossen sich allein in München ca. 70 Schulen dieser Aufforderung des MLLV und BLLV an, gegen die Selbsttestung der Schülerinnen und Schüler an den Schulen Kritik zu äußern und die wenig durchdachte Umsetzung einer Testpflicht an Schulen abzulehnen. Eine Remonstration in diesem Ausmaß gab es in der jüngeren Schulpolitik noch nie. Gerade das zeigt, wie dringlich die Schulen sinnvolle und praktikable Teststrategien fordern und wie wenig die Vorgaben des Kultusministeriums den Schulalltag im Blick haben. Wenn etwas nie Dagewesenes nun in solcher Stärke in Anspruch genommen wird, macht es aber darüber hinaus deutlich, dass die Schulleitungen und Lehrkräfte einheitlich an den Schulen große Bedenken an der Umsetzung der Selbsttest an den Schulen haben.

Mit der ausgesprochenen Dienstanweisung durch das Schulamt wird die Warnung der Experten vor Ort übergangen und eine Testung an den Schulen wird ohne Dialog und Verbesserungsvorschläge umgesetzt. Eine Remonstration als einziges Recht des Widerspruchs der Schulfamilie ist dabei durchaus als Hilferuf zu werten. Vor allem wenn so viele Lehrkräfte diese geschlossen in Anspruch nehmen, sollte das selbst unser Kultusminister, der seiner Lehrerschaft gegenüber eine Fürsorgepflicht hat, ernstnehmen – tut er aber nicht.  (weiter lesen ...)