„Wertschätzung“ - wenn ein einziger Begriff Waltraud Lučić kennzeichnen sollte, dann dieser. Als langjährige Vizepräsidentin des BLLV und Vorsitzende des MLLV forderte die ehemalige Fachlehrerin Wertschätzung für ihre Kolleginnen und Kollegen an den Schulen ein, ebenso beharrlich engagierte sie sich für die vielen sozial benachteiligten Kinder von München bis Ayacucho in Peru. Für ihr vielfältiges ehrenamtliches Engagement erfuhr sie selbst Wertschätzung von höchsten Stellen – und wurde nun Ehrenmitglied des BLLV. Porträt einer unbeirrbaren Idealistin.
Aufmerksame Stille im Saal: Kultusminister Piazolo beginnt seine Ansprache mit dem Hinweis auf einen „besonderen Gast“. Das erste Drittel seiner Video-Botschaft beim Kongress der Fachlehrkräfte in Regensburg widmet er Waltraud Lučić. Und wendet sich direkt an die Pensionistin: „Sie haben sich mit viel Charme, Herzblut und Leidenschaft“ jahrzehntelang für die Interessen der Fachlehrkräfte eingesetzt. Für junge Lehrkräfte sind Sie ein echtes Vorbild. Danke für Ihr großartiges Engagement, für das Sie sogar mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurden“. Der Applaus im Saal des Kolpinghauses kommt hörbar von Herzen.
Wer den Grund sucht für derartige Wertschätzung wie zuletzt Anfang März vor rund 150 Gästen im Kolpinghaus, sucht nicht lang. Auf 109 Jahre Ehrenamt hat sie es gebracht, hat mal jemand ausgerechnet. Acht Jahre lang war sie Vizepräsidentin des BLLV, 16 Jahre lang lenkte sie als Bezirksvorsitzende die Geschicke des MLLV. Setzte sich als stellvertretende Vorsitzende des Örtlichen Personalrats München und als Hauptpersonalratsmitglied für die Rechte der Kolleginnen und Kollegen ein, war Vorsitzende der Kinderhilfe des BLLV, initiierte das Schulfrühstücksprojekt „denkbar“, um nur die wichtigsten Engagements zu nennen, die ihr Medaillen, Ehrungen und Dankesworte wie zuletzt die des Ministers einbrachten.
Das vielfältige Engagement der einstigen Fachberaterin E/G und Leiterin der Fachgruppe Fachlehrer im BLLV sprach sich bis nach Berlin herum. So nahm sie aus den Händen von Bundespräsident Rau den Gemeinschaftspreis „Initiative Hauptschule“ der Hauptschule an der Münchener Cincinnatistraße entgegen. Und der spätere Amtsnachfolger Gauck lud sie zur Würdigung ihres ehrenamtlichen Engagements zum Neujahrsempfang ins Schloss Bellevue, wo sie an der Seite des Bundespräsidenten tafelte. Von Kultusminister Sibler erhielt sie das Bundesverdienstkreuz am Bande, auf das Piazolo in seiner Ansprache verwies.
Der Kampf für eine gerechtere, für eine menschlichere Welt kennt zwei Seiten: Die schillernde, öffentlichkeitswirksame, aber auch die stille, einsame. Die große Bühne
betrat die Frau mit den vielen Ehrenämtern beim unermüdlichen Netzwerken, Fundraisen. Gewann Schirmherren und Botschafter wie den Schriftsteller Paul Maar, den Tatort-Kommissar Miroslav Nemec, den Triathlet und Ironman-Sieger Faris Al-Sultan, den Sänger Peter Maffay oder gleich die ganze Mannschaft des Münchener Eishockey-Bundesligavereins. Geld und Aufmerksamkeit für das bayernweite Schulfrühstücksprojekt „denkbar“ trieb sie über die Charity-Sendung „Sternstunden“ ein.
Die bescheidene Seite lebte sie zum Beispiel als Vorsitzende der Kinderhilfe des BLLV im peruanischen Kinderhaus „Casadeni“. Dort finden Kinder aus den Armenvierteln von Ayacucho eine zweite Familie und eine Lebensperspektive. In Waltraud Lučić fanden sie eine überaus engagierte Handwerkslehrerin - die einmal während eines sechswöchigen Aufenthalts mit Nähmaschinen im Kofferraum zu Straßenkindern der Stadt fuhr, weil die sich von ihrem kargen Schuhputzerlohn die Fahrt ins „Casadeni“ nicht leisten konnten.
Es war das Jahr 2015, der Höhepunkt ihrer Karriere, als die Oberpfälzerin merkte, dass nach vielen Jahren des 150-prozentigen Einsatzes für Verband, Schule und Gesellschaft auch sie selbst und ihre Gesundheit mehr Aufmerksamkeit forderten. Die Mutter einer erwachsenen Tochter kandidierte nicht mehr als BLLV-Vizepräsidentin und gab den Vorsitz der BLLV-Kinderhilfe auf, konzentrierte sich nun ganz auf ihre Arbeit in der Schulstadt München und im MLLV.
Der Bezirksverband aktivierte zahlreiche Stiftungen mit Sitz in der Landeshauptstadt Münchens, wandte sich aber auch an Staatsregierung, Wirtschaft und Universitäten, um Gelder für Unterstützungssysteme zu akquirieren. Offensichtlich konnte man der Dame mit dem rollenden R und dem charmanten Lachen gegenüber schlecht Nein sagen. Immer wieder kamen fünf- bis sechsstellige Beträge zusammen, zum Beispiel für die Initiative „Lernpaten für Übergangsklassen“. 50.000 Euro vom Kultusministerium, 180.000 Euro von der Bildungsstiftung der Stadtwerke, so konnte das von der LMU erarbeitete Konzept „Lernpaten für Übergangsklassen“ umgesetzt werden. Studenten unterstützen einen Tag in der Woche die Lehrkräfte der Übergangsklassen. Als langjährige Personalrätin und Seminarleiterin ging es Waltraud Lučić nie nur um das Wohlergehen und die Weiterentwicklung der Nutznießer ihrer Aktionen, sondern auch um diejenigen, die die Arbeit erledigten. In Bezug auf die studentischen Lernpaten hielt sie fest: „Ihr Praktikum wurde anerkannt, und sie wurden für ihre Tätigkeiten bezahlt.“
Anerkennung, Wertschätzung – wenn ein Begriff diese Frau charakterisiert, dann dieser. Er steckt auch im Namen ihres Projektes „WERTvoll MITeinander – Interkulturelle Bildung für eine gelingendes Zusammenleben“ im Rahmen des Wertebündnisses Bayern. Als Christian Wulff und Gattin Bettina zu seiner Amtseinführung als Bundespräsident nach München kamen, stellte Waltraud Lučić ihm dieses Programm in der Staatskanzlei vor. Acht Schulen mit einem besonders hohen Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund konnten an dem drei Jahre währenden, wissenschaftlich begleiteten Modellversuch teilnehmen. Für dieses Projekt bekam sie im Juni 2015 die Medaille der Landeshauptstadt „München leuchtet“ für soziales Engagement. Bürgermeister Schmid lobte bei dieser Gelegenheit auch ihr Mitwirken in Projekten zur Versorgung sozial benachteiligter Kinder mit dem Schulfrühstück „denkbar“ sowie zum Lärmschutz im Klassenzimmer.
In Waltraud Lučić hatten die Schwachen und Vergessenen eine streitbare Fürsprecherin, ebenso wie ihre Kolleginnen und Kollegen an den Schulen. Das bekam 2015 auch ein Moderator von BR alpha in einem dreiviertelstündigen Interview mit der damaligen BLLV-Vizepräsidentin zu spüren. Da erzählte sie mit leuchtenden Augen von einer Exkursion nach Finnland: Dort sei es Brauch, am Schuljahresende eine Kerze zu löschen und nach den Ferien wieder anzuzünden. Das zeige „die Wertschätzung gegenüber dem Lehrer, der Licht in die Herzen der Kinder bringt“. Der Moderator unterbrach: „... auch wenn das gar nicht so lukrativ ist“. Sie gab zurück: „Natürlich ist es lukrativ: Sie werden wertgeschätzt“. Der Moderator insistierte: „... auf einer nicht-materiellen Ebene“. Er ging als Verlierer aus dem verbalen Infight: „Anerkennung“, betonte die BLLV-Vertreterin, „ist für jeden das Wichtigste. Die wenigsten Menschen würden sagen: Hauptsache die Kohle stimmt, egal was die Menschen von mir denken, und wie sie zu mir sind.“ Und vergaß nicht nachzusetzen, dass es bei all dem selbstverständlich wichtig sei, „dass die Bezahlung für alle Lehrkräfte stimmt“.
„Mit ihrer Hartnäckigkeit und ihrem Charme hat sie es geschafft, das Kultusministerium hinter sich zu bringen“, erinnert sich ihr früherer Fachlehrerkollege und Leiter der Rechtsabteilung des BLLV, Hans-Peter Etter. Dort sei man lange Zeit dem BLLV gegenüber kritisch eingestellt gewesen, sie aber habe „mit ihrer freundlichen und herzlichen Art jedem gegenüber das Vertrauen gewonnen.“ Hohlmeier, Schneider, Spaenle, Sibler und Piazolo waren ihre Gesprächspartner. Die erfolgreichsten Jahre für die Münchener Schulpolitik erlebte sie nach eigener Einschätzung unter Schneider, Spaenle und Sibler. Auch wegen der Einführung einer Migrationsklausel: Die Teilung einer Klasse mit mehr als 50 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund ab 25 Schülerinnen und Schülern. Im ersten Jahr nach Einführung bedeutete das 90 zusätzliche Klassen sowie zusätzliche Lehrerstellen. Die Klausel wird aber in letzter Zeit „verwässert“, kritisiert sie, „um den Lehrermangel zu kaschieren“.
Auch die Fachlehrkräfte, aus deren Reihen sie ja selbst stammt, haben Waltraud Lučić so manches zu verdanken: Das Fach Werken/Textiles Gestalten rettete sie gleich zweimal, wie sie der BLLV-Zeitschrift „60 … - und mehr“ erzählte. Als es aus der Stundentafel der Mittelschule gestrichen wurde und bereits eine Lehrplankommission im ISB an einer Überführung in das Fach Wirtschaft arbeitete, legte sie ihr Veto im KM ein. Prompt kehrte das Fach wieder in die Stundentafel zurück – und Lučić fand sich in der Lehrplankommission wieder. Als das Kultusministerium Jahre später das Fach Werken/Textiles Gestalten in der 1. Jahrgangsstufe um eine Stunde kürzte und es umbenannte, intervenierte sie wiederum. Und Minister Spaenle nahm alles wieder zurück.
An der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen initiierte sie eine Fachtagung für Fachlehrkräfte. Über Jahre hinweg bot das vom KM gestützte Institut Workshops für jeweils 250 und mehr Kolleginnen und Kollegen an. Dass es gelang, ein solches Angebot in einem übervollen Seminarprogramm zu etablieren, hatte wiederum mit ihren Kontakten und dem guten Verhältnis zu den Entscheidern in Ministerien und Ämtern zu tun. So betrieb sie mit Georg Eisenreich, dem damaligen Vorsitzenden des Bildungsausschusses und späteren Staatssekretär im Kultusministerium, fast 15 Jahre lang gemeinsam Bildungspolitik. Der „60 … - und mehr“ vertraute Eisenreich an, er habe „den regelmäßigen und wertvollen Meinungsaustausch mit ihr sehr geschätzt“ – auch wenn jedes Gespräch für ihn „neue Hausaufgaben“ bedeutet hätten.
In einem Interview mit der Münchener Lehrerzeitung wurde die scheidende MLLV-Chefin nach ihrem „Erfolgsrezept“ gefragt. „Zuhören, beobachten, den Gesprächspartner ernst nehmen, wertschätzen“, erklärte sie, und ein „offener, ehrlicher und vertrauensvoller Umgang mit den Politikern“, sowie eine „ehrliche, offene und unterstützende Arbeit“ in den Führungsgremien des Verbandes. Der MLLV dankte es ihr 2020 mit der Verleihung des Titels „Ehrenvorsitzende´ und nun 2023 dankt ihr der BLLV mit der Ernennung zum Ehrenmitglied. Dass „Ehrlichkeit“ ebenso wie „Wertschätzung“ für eine Waltraud Lučić nicht leere Worte sind, bewies sie einmal mehr auf dem Regensburger BLLV-Kongress der Fachlehrkräfte: In einem Vier-Augen-Gespräch winkte sie ab, als die Rede auf Piazolos Dankesworte kam: Sie habe ja nicht wirklich Erfolg gehabt, den Fachlehrkräften gehe es doch noch genauso schlecht wie damals.
Zur Ehrlichkeit gehört in ihrem Fall auch der Mut, trotz fortgeschrittener Parkinson-Erkrankung in die Donau-Metropole gereist zu sein und sich nach Jahren eines schmerzvollen Rückzugs einem großen Publikum zu zeigen. Auch vor diesem Hintergrund wurden Piazolos wertschätzende Worte im Saal nicht als Lobhudelei verstanden, sondern rührten die Herzen. Wie ihr langjähriger Weggefährte Etter sagte: Eine „Kümmerin“ wie sie fehlt, „sie war ein Glücksfall für den Verband“.